Ernst Bloch

Motiv der Verborgenheit


So folgt die chassidische Geschichte, tiefer als der Tag gedacht, und tiefer, als selbst der Rabbi Rafael aus Belz sein sonderbares Erlebnis zuerst begriffen hat.
Dem war einst, während er träumte, ein Engel erschienen. »Neben wem werde ich dort drüben sitzen?« fragte ihn der Rabbi. »Du wirst drüben neben Jizchak Leib aus Lodz sitzen«, sagte der Engel und verschwand. Nun war der Rabbi Rafael berühmt wegen seiner Frömmigkeit und geheimen Wissenschaft in ganz Israel. »Neben wem werde ich dort drüben sitzen? - neben Jizchak Leib? - ich habe im ganzen Leben seinen Namen noch nicht gehört.« Am nächsten Tag ließ der Rabbi anspannen und machte sich auf den weiten Weg nach Lodz. Es war Freitag nachmittags, als er ankam, und ließ sich sogleich beim Vorsteher der Gemeinde melden. Der empfing mit Ehrfurcht den großen Kabbalisten, aber von Jizchak Leib konnte er ihm nichts berichten. Sie fragten gemeinsam weiter, bei den älteren Männern, bei den jungen, eben erst zugezogenen, lange vergebens, bis endlich der und jener sich zu erinnern glaubte: an der Mauer wohnt einer, der viel auf Reisen ist und sich nie blicken läßt, wir glauben, das ist Jizchak Leib. Der Rabbi ließ sich den Weg durch das hölzerne Lodz zeigen, das damals noch ein Dorf war, es kamen die ersten Sterne, als er vor der richtigen Tür stand, und er freute sich, den Sabbateingang mit dem Frommen zu feiern. Aber Jizchak Leib war nicht zuhause; »er hat Geschäfte«, sagte ein altes Weib auf der Straße und grinste. »Geschäfte am Feiertagabend?« - der Rabbi wusste nicht, was er von den Worten halten sollte, »nun, dann werde ich im Hause auf ihn warten.« Er saß lange in der Stube und dachte an seinen Traum, blickte auf das armselige Gerät und es fiel ihm das Wort des Rabbi Elieser ein: der Mensch sei leichter zu erlösen als zu ernähren; er dachte an den Sabbat der oberen Welten und wie er ihn feiern wolle, mit dem, der von dorther kam, er dachte an Gideon, der die Sonne angehalten hatte, und ans Krüglein der Witwe, an David und Jonathan - da trat Jizchak Leib ein, ein ganz verkommener alter Mann und, wie es schien, betrunken. Kaum sah Leib den Gast, so fragte er mistrauisch, ob er noch einen Handel mit ihm machen wolle. »Nein, Jizchak Leib, ich habe euch besucht, weil« - der Rabbi kam nicht weiter, denn der Leib hatte schon zu essen begonnen, ohne auch nur das Tischgebet gesprochen zu haben. »Aber Jizchak Leib, ihr habt ja noch nicht einmal den Segen gesprochen« der armselige Mann schüttelte den Kopf, sagte, er habe das Beten verlernt, und der Rabbi sprach die Worte für ihn. Als der Rabbi aber auch dann noch, nach dem Ende des Mahls und vielen Aufforderungen Jizchak Leibs, unter denen nur keine zum Essen war, kein Geschäft vorschlug, wurde der Schächer zornig und warf seinen Gast mit vielen Flüchen aus dem Haus. Da stand nun der Rabbi auf der Straße, im verlorenen Sabbat und im eignen Spiegel. »Also neben diesem großen Sünder werde ich dort drüben sitzen? Wahrhaftig, Gott, ich muss sagen, du hast kuriose Einfälle!« - und schlug ohnmächtig hin. Als ihn ein Mann fand, war es schon Tag, er ließ sich den Weg nach der Herberge zeigen und befahl dem Knecht, augenblicklich anzuspannen, nach Belz zurück. Alle Würden wollte er abtun und sich kasteien, damit ihm Gott seine große Sünde zeige und vielleicht vergebe. Fühllos saß er im Wagen und merkte nicht, wie sie an einen Fluss gekommen waren, der Hochwasser führte und hatte schon fast die Brücke zertrümmert, nur halb fasste der Wagen auf den Bohlen Grund. Glücklich waren sie hinüber, da hörte man vom Ufer rückwärts Lärm und sah den Jizchak Leib, wie er auf die Brücke sprang und rief. »Ihr könnt nicht kommen, die Brücke ist entzwei«, schrie der Rabbi: da warf der Jizchak Leib seinen Kaftan ins Wasser und fuhr auf ihm quer übers Wasser den Fluss herüber ans Land. »Das Gebet hat mir doch gefallen« sagte Jizchak Leib; »so habe ich es zuletzt von meinem Vater gehört, aber ihr müsst es mir noch einmal sagen, ich habe ein schwaches Gedächtnis und die Worte kann ich nicht behalten.« - »Jizchak Leib«, sagte der Rabbi Rafael und weinte, »was kann ich euch lehren? gebt mir euren Segen!« Jizchak Leib schüttelte den Kopf, legte dem Knienden die Hände aufs Haupt, warf seinen Kaftan wieder aufs Wasser und trieb stehend zurück. Rabbi Rafael aber fuhr sehr getröstet zurück in die heilige Stadt Belz.

Aus Spuren