So folgt die chassidische Geschichte, tiefer als der Tag gedacht, und
tiefer, als selbst der Rabbi Rafael aus Belz sein sonderbares Erlebnis
zuerst begriffen hat.
Dem war einst, während er träumte, ein Engel erschienen. »Neben wem
werde ich dort drüben sitzen?« fragte ihn der Rabbi. »Du wirst
drüben neben Jizchak Leib aus Lodz sitzen«, sagte der Engel und
verschwand. Nun war der Rabbi Rafael berühmt wegen seiner
Frömmigkeit und geheimen Wissenschaft in ganz Israel. »Neben wem
werde ich dort drüben sitzen? - neben Jizchak Leib? - ich habe im
ganzen Leben seinen Namen noch nicht gehört.« Am nächsten Tag ließ
der Rabbi anspannen und machte sich auf den weiten Weg nach Lodz. Es
war Freitag nachmittags, als er ankam, und ließ sich sogleich beim
Vorsteher der Gemeinde melden. Der empfing mit Ehrfurcht den großen
Kabbalisten, aber von Jizchak Leib konnte er ihm nichts berichten. Sie
fragten gemeinsam weiter, bei den älteren Männern, bei den jungen,
eben erst zugezogenen, lange vergebens, bis endlich der und jener sich
zu erinnern glaubte: an der Mauer wohnt einer, der viel auf Reisen ist
und sich nie blicken läßt, wir glauben, das ist Jizchak Leib. Der
Rabbi ließ sich den Weg durch das hölzerne Lodz zeigen, das damals
noch ein Dorf war, es kamen die ersten Sterne, als er vor der
richtigen Tür stand, und er freute sich, den Sabbateingang mit dem
Frommen zu feiern. Aber Jizchak Leib war nicht zuhause; »er hat
Geschäfte«, sagte ein altes Weib auf der Straße und
grinste. »Geschäfte am Feiertagabend?« - der Rabbi wusste nicht, was
er von den Worten halten sollte, »nun, dann werde ich im Hause auf ihn
warten.« Er saß lange in der Stube und dachte an seinen Traum,
blickte auf das armselige Gerät und es fiel ihm das Wort des Rabbi
Elieser ein: der Mensch sei leichter zu erlösen als zu ernähren; er
dachte an den Sabbat der oberen Welten und wie er ihn feiern wolle,
mit dem, der von dorther kam, er dachte an Gideon, der die Sonne
angehalten hatte, und ans Krüglein der Witwe, an David und Jonathan -
da trat Jizchak Leib ein, ein ganz verkommener alter Mann und, wie es
schien, betrunken. Kaum sah Leib den Gast, so fragte er mistrauisch,
ob er noch einen Handel mit ihm machen wolle. »Nein, Jizchak Leib, ich
habe euch besucht, weil« - der Rabbi kam nicht weiter, denn der Leib
hatte schon zu essen begonnen, ohne auch nur das Tischgebet gesprochen
zu haben. »Aber Jizchak Leib, ihr habt ja noch nicht einmal den Segen
gesprochen« der armselige Mann schüttelte den Kopf, sagte, er habe
das Beten verlernt, und der Rabbi sprach die Worte für ihn. Als der
Rabbi aber auch dann noch, nach dem Ende des Mahls und vielen
Aufforderungen Jizchak Leibs, unter denen nur keine zum Essen war,
kein Geschäft vorschlug, wurde der Schächer zornig und warf seinen
Gast mit vielen Flüchen aus dem Haus. Da stand nun der Rabbi auf der
Straße, im verlorenen Sabbat und im eignen Spiegel. »Also neben
diesem großen Sünder werde ich dort drüben sitzen? Wahrhaftig,
Gott, ich muss sagen, du hast kuriose Einfälle!« - und schlug
ohnmächtig hin. Als ihn ein Mann fand, war es schon Tag, er ließ
sich den Weg nach der Herberge zeigen und befahl dem Knecht,
augenblicklich anzuspannen, nach Belz zurück. Alle Würden wollte er
abtun und sich kasteien, damit ihm Gott seine große Sünde zeige und
vielleicht vergebe. Fühllos saß er im Wagen und merkte nicht, wie
sie an einen Fluss gekommen waren, der Hochwasser führte und hatte
schon fast die Brücke zertrümmert, nur halb fasste der Wagen auf den
Bohlen Grund. Glücklich waren sie hinüber, da hörte man vom Ufer
rückwärts Lärm und sah den Jizchak Leib, wie er auf die Brücke
sprang und rief. »Ihr könnt nicht kommen, die Brücke ist entzwei«,
schrie der Rabbi: da warf der Jizchak Leib seinen Kaftan ins Wasser
und fuhr auf ihm quer übers Wasser den Fluss herüber ans Land. »Das
Gebet hat mir doch gefallen« sagte Jizchak Leib; »so habe ich es
zuletzt von meinem Vater gehört, aber ihr müsst es mir noch einmal
sagen, ich habe ein schwaches Gedächtnis und die Worte kann ich nicht
behalten.« - »Jizchak Leib«, sagte der Rabbi Rafael und weinte, »was
kann ich euch lehren? gebt mir euren Segen!« Jizchak Leib schüttelte
den Kopf, legte dem Knienden die Hände aufs Haupt, warf seinen Kaftan
wieder aufs Wasser und trieb stehend zurück. Rabbi Rafael aber fuhr
sehr getröstet zurück in die heilige Stadt Belz.
Aus Spuren